DER BUND Nr. 85 vom 7. April 2001

S. 25  

WORB

Chronik im Buch und im Internet

brg. Dieses Projekt ist in der Schweiz einzigartig: Über 50 Personen arbeiten an einer ganzheitlichen Geschichtsschreibung über die Gemeinde Worb; sie soll in Buchform sowie im Internet publiziert werden. Dabei werden nicht nur die politischen Fakten zusammengetragen. Die meist ehrenamtlich tätigen und Geschichte studierenden Personen versuchen, alle Aspekte des Lebens, und zwar von der Eiszeit bis zum heutigen Tag, zu einem vollständigen Ganzen zu verweben. So ist es beispielsweise das Ziel, die zum Teil eher abstrakte Geschichte anhand des Lebenslaufs einer einzelnen Person konkret aufzuzeigen. Das Buch soll Ende 2004 erscheinen Für das gesamte Projekt stehen 230 000 Franken zur Verfügung.

Region Bern, Seite 2    

S. 28     von      URS MANNHART

Geschichte sprengt
die Buchdeckel

WORB - Seit einem halben Jahr arbeiten über 50 Personen hauptsächlich ehrenamtlich an einer Geschichtsschreibung, die im nationalen Vergleich einzigartig ist. Es ist ein Versuch, die Geschichte Worbs ganzheitlich zu erfassen und im Internet wachsen zu lassen.

 

Aus Momentaufnahmen, hier der Bahnhof in Worb, ein zusammenhängendes Ganzes fertigen: Das will die Chronik von Worb.

 

«Vor 250 Jahren war der Diebstahl von Holz in Worb noch ein Delikt, über dessen Strafmass die Gemeindeversammlung entschied», sagt Heinrich Schmidt, und erwähnt damit eine der überraschenden Tatsachen. die bereits den staubigen Archiven entlockt werden konnte. Schmidt ist Professor für Geschichte an der Universität Bern [für den Professor für Geschichte kann ich übrigens nichts, HRS] und Leiter eines Teams von über 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich seit einem halben Jahr intensiv mit der Vergangenheit Worbs auseinandersetzen. Ziel der Arbeiten ist es, Ende 2004 ein Geschichtsbuch über Worb zu veröffentlichen, das nicht nur den Rahmen der üblichen Geschichtsschreibung, sondern auch die Buchdeckel selbst sprengen soll.

Allumfassende Geschichte

Das Team hat sich nämlich dem Versuch verschrieben, eine «histoire totale» zu betreiben. Darunter verstehen sie eine Geschichtsschreibung, die nicht bloss die politischen Fakten sorgsam zusammenträgt, sondern versucht, alle Aspekte des Lebens, und zwar von der Eiszeit bis zum heutigen Tag, zu einem vollständigen Ganzen zu verwehen. Die meisten Arbeiten befinden sich noch im Stadium der Quellenerfassung: Stapelweise werden Gemeinderats- und Gerichtsprotokolle, Reglemente, Korrespondenz der Gewerbetreibenden, Sittengerichtsentscheide und private Tagebücher durchgearbeitet.

Kaum lesbare Handschriften

Grosse Schwierigkeiten stellen sich den Arbeitenden — Über 30 von ihnen studieren Geschichte — bereits in den Quellen: Oft sind die Dokumente nur in kaum lesbaren Handschriften vorhanden. Um sinnvoller arbeiten zu können, wurden zahlreiche Dokumente digitalisiert. Das verschlang bereits 70000 Franken der 230000 Franken, die das Worber Parlament im vergangexten September für die Erarbeitung einer Dorfchronik gesprochen hat. Weitere 150000 Franken sind für den Buchdruck reserviert, woraus auch deutlich wird, das hauptsächlich ehrenamtlich gearbeitet wird.

Die digitalisierten Quellentexte eröffnen ganz neue Möglichkeiten: Aufs Internet geladen, wo die Informationen öffentlich zugänglich werden, entfalten sie erst ihren vollen Wert. Peter Lühti-Ott, zuständig für die Datenverarb eitung, erwartet einiges von dieser in der Schweiz bisher einmaligen Arbeit. „Ziel ist es, die Inhalte der Datenbanken so zu verknüpfen, dass sich die abstrakte Geschichte an einem Lebenslauf konkretisiert. Das würde beispielsweise Schuleintritt, Arbeitsstelle, Heirat, Gerichtsurteil und Konkurs einer einzelnen Person beinhalten.» Damit öffne sich eine grosse Fundgrube, die landesweit und nicht nur bei Lehrpersonen auf grosses Interesse stossen könnte.

Nie abgeschlossener Prozess

«Auch nach dem Buchdruck kann die Arbeit an den Datenbanken weitergeführt werden», sagt Heinrich Schmidt. «Es ist ein offener, nie abgeschlossener Prozess.» Auch ist für Schmidt der Bezug zur Gegenwart gewährleistet: «Es geht darum, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen die Menschen damals gehandelt und gedacht haben. Wer das verstanden hat, der kann das auf die heutigen Umstände anwenden.»

7. APRIL 2001                                         REGION BERN

Frauen siegten häufiger

uma. Was einst in der Dorfchronik von Worb (siehe Haupttext) zu lesen sein wird, zeigt beispielhaft die Studie, die Birgit Stalder erarbeitet hat. Die Berner Geschichtsstudentin untersucht das Verhältnis der Geschlechter in Worb zwischen 1700 bis 1876. Als Grundlage dazu durchforstete sie die Protokolle des Sittengerichts. Aus einer Fülle von handgeschriebenem Papier hat sie dabei 144 Fälle genauer untersucht. Die Vaterschaftsklagen, die laut Birgit Stalder «seitenweise» dokumentiert sind, liess sie unerwähnt und hat sich stattdessen auf die Eheklagen konzentriert.

Gericht half den Frauen

Dabei stiess sie auf erstaunliehe Befunde: Obschon sich die Frauen ganz klar dem Willen ihrer Gatten beugen mussten, und obschon die Männer sogar ein «Züchtigungsrecht»‘ gegenüber ihren Gemahlinnen besassen, konnten sich viele Frauen vor Gesicht Gehör verschaffen. Frauen gingen häufiger als Siegerinnen aus dem Gericht als ihre Männer, für die es oft eine Geldbusse oder ein Wirtshausverbot absetzte. Siegreich verlief beispielsweise die Klage von Margaretha Steinmann, die am 4. Juni 1820 von ihrem Mann Christian Steinmann die Scheidung verlangte. Obschon ihr Mann mehrere Jahre im Kerker gesessen hatte, habe sie auf sein Flehen hin auf ihn gewartet. Aus der Haft entlassen brachte er aber Streit und Flüche in die Ehe, vernachlässigte seine Haushaltpflichten, verbrachte die Tage im Wirtshaus und verprasste das Geld. Das Gericht hiess die Klagen gut, auch mit der Begründung, dass die Frau in Worb einen guten Ruf habe.