Max Weber:

Die okzidentale Stadt des Mittelalters als schöpferisches Aktivitätszentrum

von

Matthias Kuchenbrod


"Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt."

SOKRATES in Platons >Phaidros<


Die Stadt als Siedlungsform ist ein universelles Sozialphänomen, welches sich seit ca. 3000 v.Chr. in allen Hochkulturen findet. Ebenso universell ist, wie uns die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen lehren, das Bündel an Aspekten und Eigenschaften, durch das die Stadt als eigenständiges Phänomen definiert wird, welches sich deutlich von seiner ländlichen Umwelt abhebt: Nahezu überall übt die Stadt gegenüber ihrem ländlichen Umfeld eine zentralörtliche Funktion aus (Verwaltung, militärische Absicherung von Regionen, Verkehrsknotenpunkt, kultisch-religiöser und intellektueller Mittelpunkt, etc.). Darüberhinaus definiert sich die Stadt - im Vergleich zu ihrer Umwelt - durch eine höhere Siedlungs- und Bevölkerungsdichte, durch eine gesteigerte Komplexität des Sozialgefüges (Schichten- und Berufsvielfalt) und durch eine stärkere soziale Mobilität innerhalb des Sozialgefüges (bessere Aufstiegschancen innerhalb der ökonomischen und sozialen Hierarchie). Nicht zuletzt betonen die Wirtschaftshistoriker eine Konzentration von Betrieben des sekundären und tertiären Sektors innerhalb der Stadtgrenzen. Konträr zu diesem Bemühen, einen allgemeinen und universell anwendbaren Gattungsbegriff der Stadt zu bilden, steht allerdings das Anliegen der Kulturwissenschaften ihre Objekte einer individualisierenden Begriffsbildung zu unterwerfen, der es in erster Linie darum geht, die historischen Besonderheiten und damit die spezifische Kulturbedeutung ihrer Objekte herauszuarbeiten. In diesem Sinne hatte sich der Ökonom und Kulturwissenschaftler Max Weber in einem posthum veröffentlichten Artikel darum bemüht die Eigenarten der okzidentalen Stadt des Mittelalters durch einen interkulturellen Vergleich mit der Stadt des Orients (spez. Indien und China) und durch einen intertemporären Vergleich mit der Stadt der Mittelmeerantike herauszuarbeiten. Er bediente sich dabei des maßgeblich von ihm entwickelten Verfahrens der idealtypischen Begriffsbildung, indem er wesentliche Aspekte seines Forschungsobjekts einseitig steigerte, um sie so eindeutiger und leichter erfassen zu können (vgl. dazu meinen Beitrag über den Idealtypus). Sein Anliegen war es, wie auch in seinem Gesamtwerk, die Eigenheiten des Okzidents als Kulturraum aufzuzeigen und in ihrer historischen Bedeutung auszuloten. Der folgende Beitrag wird sich bemühen, die wesentlichen Punkte der Weberschen Abhandlung darzustellen.


Die mittelalterliche Stadt des Okzidents

Von der Heteronomie zur Autonomie

Im Rahmen seiner idealtypischen Begriffsbildung hebt Weber folgende Aspekte der mittelalterlichen Stadt des Westens hervor, die er gleichzeitig mit den Eigenschaften der antiken und orientalischen Stadt kontrastiert:

Dieser Typus der mittelalterlichen Stadt, der in voller Reinheit nur selten erreicht wird (am ehesten in Nordwesteuropa). entsteht nach Weber durch eine Entwicklung von der Heteronomie zur Autonomie. Die Stadt steht zunächst regelmäßig unter der Kontrolle und Herrschaft eines Stadtherren - entweder eines Bischofs (vor allem in den Städten, die auf antiken Gründungen beruhen), oder aber eines adligen Machthabers, z.B. eines Grafen oder königlicher Dienstmänner (die z.T. unfrei waren), - dem erst seit dem 11. Jh. in einem langen Prozeß die Stadtautonomie abgerungen wird. Die Stadtbürger wählen dazu entweder den Weg der Verhandlung oder den Weg des offenen Aufstandes durch eine "Verschwörung" (conjuratio) der Bürgergemeinschaft, in der Regel aber eine Mischung aus beiden Wegen. Im Rahmen der Städtegründungswelle des 12. Jh. in Deutschland wird dem Bürgerverband häufig schon von vorneherein weitgehende Autonomie zuerkannt, um die Neugründung für Händler und Handwerker attraktiv zu gestalten (z.B. Freiburg im Jahre 1120). Gefördert wird die Stadtautonomie durch das allgemeine Machtdefizit der königlichen Zentralgewalt, sowie durch den Finanz- und Kreditbedarf der konkurrierenden Adelshäuser und Könige, die sich die Vergabe von Rechtsprivilegien an die Städte häufig regelrecht abkaufen lassen.


Die Kulturbedeutung der mittelalterlichen Stadt:

Ein schöpferisches Aktivitätszentrum

Wie oben bereits angedeutet, hatte Weber die mittelalterliche Stadt als Forschungsobjekt gewählt, um so den Eigenarten der okzidentalen Kultur auf den Grund zu kommen. In seinem Gesamtwerk hatte Weber im wesentlichen drei Aspekte dieser Kultur hervorgehoben, die ihm offensichtlich auch persönlich als wertvoll erschienen:

Alle drei Aspekte sichern die, nach Weber freilich stets durch aufkommende Gegenkräfte bedrohte Autonomie des Individuums, welches sich in kühler Berechnung seinen frei gewählten Verpflichtungen, seinem "Beruf", widmen kann.

Auch wenn die okzidentale Stadt seit dem Spätmittelalter durch das Aufkommen der mehr oder weniger absolutistischen Territorialstaaten ihre Autonomie weitgehend einbüßte, war sie nach Weber dennoch ein wichtiges evolutionäres Element innerhalb der Ausbildung der spezifisch westlichen Kultur. Ihre dauerhafte evolutionäre Leistung liegt in der

Insofern scheint es berechtigt, die mittelalterliche Stadt, neben der Konkurrenzökonomie, der Wissenschaft und dem Krieg, als ein schöpferisches Aktivitätszentrum der westlichen Welt zu interpretieren.


Literatur

Primärliteratur:

Sekundärliteratur zu M. Weber:

Allgemeines zum Phänomen der Stadt:

Empirische Studien zur mittelalterlichen Stadt (Auswahl):

Quellentexte zur mittelalterlichen Stadt (Auswahl):

Weitere Literatur zur Stadtgeschichte bietet >Grundlagenliteratur<.


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